Küsse sterben auf Lippen / Anouncement: The End of unterm durchschnitt

22.11.2011, 09:00

unterm durchschnitt wird 13 Jahre alt.

Zur Feier dieses Jubiläums gebe ich hiermit das Ende von unterm durchschnitt bekannt. Es wird keine neuen Platten auf diesem Label mehr geben. Etwas Neues habe ich weder in Sicht noch geplant.

 

"Küsse sterben auf Lippen." (Mallorys Last Dance)

unterm durchschnitt ist eine Plattenfirma, die 1999 durch mich noch während der Schulzeit gegründet und von mir* betrieben worden ist. Das Label entstand aus sich heraus, da ich durch meine kulturelle Arbeit und eine eigene Band über ein paar überregionale Kontakte verfügte und mit viel Engagement Auftritte für andere Gruppen gleich mit organisierte. Grund meines Enthusiasmus wurde ich quasi durch andere verpflichtet, mich auch um deren Veröffentlichungen zu kümmern. Dabei achtete ich stets auf spannende, intelligente und außergewöhnliche Texte. Sie mussten berühren und Eigenständigkeit besitzen. Mein Konzept war es nicht, einfach nur gute Platten heraus zu bringen, sondern auch eine eigenständige inhaltliche Vermittlung.

Schon schnell war ich von politischen Lyrics der Deutschpunk-Fraktion übersättigt. In Göttingen gab es derlei Musik im Überfluss. Letztlich las sich doch vieles wie abgelesene Flugblattschriften oder war einfach auch so nur schlecht. Das Bewusstsein, dass auch Musik, die eher in einem privat-persönlichen Kontext steht, eine gesellschaftskritische Ebene erreichen könne, trieb mich an.

Daraus ergibt sich ein roter Faden, band- und releaseübergreifend bei allen auf unterm durchschnitt erschienenen Platten. Die Palette der darin geäußerten Kritik an den Verhältnissen fußte immer im Persönlichen, Privaten - also auf einer emotionalen Ebene. Seien es Gefühle und Gedanken der Entfremdung, Isolation, erstarkter Angst, Frustration oder empfundener Wut, nie ganz eingeschrumpft und immer noch mit dem nötigen Flackern, kurz  hinter den Augen. Intendiert war aus dieser Haltung heraus ein Messerstich in die Verhältnisse. Und so verstehe ich mein Labelprogramm auch als einen persönlichen Rundumschlag aus Kapitalismuskritik, Genderplay, Gentrifizierung, Kritik an Rassismus/Faschismus, mindestens auch eine zynische Momentanaufnahme der Perspektivlosigkeit einer aufs Funktionieren beschränkten Gesellschaft. Mein ganz persönliches Projekt war die Popkritik und (selbst)kritische Vergegenwärtigung nationalistischer Tendenzen im Kulturbetrieb. In der Buch-Compilation I Can´t Relax In Deutschland brachten dies Autoren wie Martin Büsser und Roger Behrens sowie das Kollektiv um das Conne Island in Leipzig auf einen treffsicheren Punkt, dem sich Prominenz des kritisierten Popgetriebes anschlossen. Besonderer Dank gilt an dieser Stelle neben Martin und Roger vor allem auch Alfred Hilsberg, der im Hintergrund viele Türen für dieses Projekt aufstieß.

 

Ich hoffe den Bands in ihrer Zeit bei unterm durchschnitt ein gutes Zuhause geboten zu haben. Bezüglich der Wirkungsmächtigkeit meiner Bands und I Can´t Relax In Deutschland können Außenstehende vielleicht neutralere (d.h. glaubwürdigere) Worte finden. Ich jedenfalls denke, mein Backkatalog spricht für sich und bin von seiner Nachhaltigkeit überzeugt. Hoffentlich ist es mir gelungen, zumindest für eine Dekade Popkultur diskursiv zu gestalten und das neben so banalen als auch wichtigen Dingen, wie Tanz, Unterhaltung und sich 3 Minuten lang frei zu fühlen, auch gelungen ist, viele Menschen anzuregen, sich kritisch mit der Welt und insbesondere der Popkultur auseinanderzusetzen.  Wem sich mein Anspruch nicht aufgedrängt hat, da er/sie einfach eine musikalische Vitaminspritze für den harten Alltag gesucht hatte, ohne sich darüber nähere (kritische) Gedanken zu machen, dem sei nachträglich das mich stark beeindruckende Werk von Adorno/Horkheimer empfohlen, insbesondere das Kulturindustrie-Kapitel in Dialektik der Aufklärung.

 

We are poets, who like to dance on rooftops
We watch the sun sets down.
We are shadows in the dawn.
(Jet Black)

 

Sich, mit D.I.Y.-Hintergrund ausgestattet, in der Popkultur als Label verankern zu können, bedurfte großer Anstrengungen. Einerseits wollte ich eine Kritik an den herrschenden Verhältnissen und der Popkultur aufrecht halten, andererseits mich aber auch aus dem D.I.Y.-Kontext lösen, den ich für sehr kritikabel halte und dem ich in einem Text auch unreflektierte antisemitische Latenzen nachwies (siehe dazu mein Textarchiv unter www.unterm.org/polaroid-plus). Dass sowohl das Label als auch meine Bands in Fanzines als auch Magazinen und einigen Tageszeitungen Resonanz fanden, möchte ich noch einmal mit einer gewissen nachträglichen Überraschung unterstreichen. Den Spagat hielt ich anfänglich für nicht möglich. Lange Zeit war unterm durchschnitt zu Emo, um wirklich Punktauglich zu sein, und zu Punk, um vom Diskurs-Pop- bis "Alternative"-Rock-Bereich das redaktionelle Vertrauen (sprich: Platz in Form von Seiten) zu erhalten. Spätestens seit "Zu Den Takten Des Programms" scheint auch dieser Wandel noch vollzogen.

Besonderer Dank gilt deshalb noch einmal an dieser Stelle Falk Albrecht, der  die Jet Black 7" 2003 bei mir bestellte und bezahlte, um darüber überhaupt rezensieren zu können, Oliver Uschmann für den Popdiskurs und Britta Helm für´s aufrichtige Interesse und Kümmern (alle Visions), Ina und Sarah vom Uncle Sallys, Linus Volkmann und Felix Scharlau für den salzigen Tee (schade, dass wir uns erst im Sommer persönlich kennen lernten) sowie Christian Steinbrink (alle Intro) und natürlich Dolf vom Trust Fanzine sowie Joachim vom Ox für viel Unterstützung und vor allem eure (konstruktive) Kritik über die ganze Zeit hinweg sowie in ganz besonderem Maße die vielen DIY-Fanzines (inbesondere das eingestellte Massenmörder züchten Blumen-Zine aus Berlin) sowie das Beatpunk Webzine - danke Sebastian, Chris, Dennis und alle Anderen für aufrichtige Kritik zum Programm.

 

Gerade die letzte Veröffentlichung (Adolar - "Zu Den Takten Des Programms") hat mir meine Entscheidung richtig, richtig schwer gemacht. In Sachen künstlerischer Qualität oder kommerzieller Aussichten müsste ich mir hier nicht den Hauch einer Sorge machen. Aber viel wichtiger noch: zwischen Tom, Micha, Frank, Jan und mir entstand wahre Freundschaft - eine gute Voraussetzung für besonders vertrauensvolle Zusammenarbeit. Sie dürfte auch die Zeit danach bestehen bleiben, wie die Freundschaft zu den anderen Bands auch. Ich denke, keine meiner Bands muss sich an dem nun angelangten Punkt ernsthafte Sorgen um die eigene Zukunft machen ... und deshalb ist das auch ein guter Moment, einfach mal loszulassen.

 

Alles wird lauter und ihr spuckt euch beim Sprechen ins Gesicht
Siehst du diesen Nachtbus?
Er fährt mich weg von dir und deinen Freunden.
(Adolar)


Der gestiegene (eigene) Anspruch, auch das Visuelle zu steigern und das Konzept einer Band um das Album herum auch in Form von Videoclips umzusetzen, war eine Herzensangelegenheit von einem Kind der 90er Jahre. Es war natürlich mutig bei wegbrechenden öffentlichen TV-Angeboten. Doch es hat auch Spaß gemacht. Der Popularität der Bands hat es nicht geschadet und die Reichweite erweitert. Doch die Releases wurden dadurch auch immer risikoreicher. Die Hoffnung, dass sich dies auch in gestiegenen Verkäufen ausdrückt, erfüllte sich leider nicht im gewünschten wie notwendigen Mindestumfang. Leider gibt es in der Tat viele Fans von Label wie Bands, die der Meinung waren, Musik kostenlos runterzuladen sei okay. Ein Selbstversuch. Seit 2009 befindet sich auf unserer Seite die Möglichkeit, für frei auf unserer Seite oder sonstwo im Netz besorgter Musik eine kleine Spende (Button unter www.unterm.org/mp3) zu entrichten. Von den vielen tausend Fans unserer Bands tat dies nur eine Person in 3 Jahren - 1 Euro. Wie soll man das als Label mit Kostenbelastungen von mehreren tausend Euro noch gut heißen können?

Mir ist es dennoch wichtig, das Label nicht aus dem zuletzt genannten Grund gescheitert zu sehen. Als die ganze (Medien-)Industrie schon ihr Klagelied ein und auswendig kennend trällerte und sich viele Medien nicht über Künstler mit guter Musik, sondern über Künstler mit neuen Vertriebswegen (und oftmals beschissenen Alben/Songs) unterhielten, ging die Popularität meines Labels wie auch die Verkaufszahlen stetig nach oben - bis heute. Von Anfang an wurden wir von ehrlichen Fans getragen und unterstützt! Wenn jemand - neben den Bands - Dankbarkeit und Respekt verdient hat, dann sind es die vielen Fans und Liebhaber unserer gemeinsamen Musik und Leidenschaft.

Trotz, dass unterm durchschnitt immer das Ziel hatte, jenseits sprachlicher oder nationaler Grenzen wahrgenommen zu werden, ist das Label tiefer und tiefer mit dem Label "Deutsch" ausgestattet und verstanden worden (hierzu nochmal ein Verweis auf die kritische Haltung dazu, siehe www.icantrelaxin.de), sogar im Green Hell Mailorder tauchten wir plötzlich in einer solchen Kategorie auf. Noch einmal möchte ich deshalb darauf verweisen, dass wir und alle unsere Bands nicht nur ein Bauchgrummeln bei Nationalismus (insbesondere deutschem) bekommen, sondern sich in ihrem Wirken auch über die Musik hinaus gegen die Verharmlosung von Nationalstaaten einsetzen. Dies drückt sich bei vielen Bands auch ganz plakativ in ihrer Mehrsprachigkeit aus (Katzenstreik, Jet Black, Mallorys Last Dance, frühe Captain Planet), zum Teil mit wilden Wechsel zwischen deutsch und englisch in einem Satz.

 

Die Geschichte des Scheiterns erreichte aber auch eine ganz persönliche Ebene der Enttäuschung. Das einst getroffene mündliche Absprachen das Vertrauen nicht Wert waren, musste ich in den vergangenen Jahren mehrfach erfahren.  Neben der persönlichen Niedergeschmettertheit hat dies auch praktische Folgen und nimmt mir die Luft zum Atmen.

 

So rockt es nicht on and on                                                                               (Katzenstreik)

 

 

Liebe Grüße,

Andreas Wildner

 

 

pps: Abschiedsparty in Köln, 2012. Bekanntmachung folgt asap.

 

 

Besondere Alben

"Zu Den Takten Des Programms" (Adolar)

"Emowürstchen" (Katzenstreik)

"The Dead End" (Jet Black)

"Wasser Kommt Wasser Geht" (Captain Planet)

"A Statue Or The Stone..." EP (Iskra)

... aber eigentlich jeder einzelne Release!

 

Meine Playlist für die Ewigkeit**:

"Atmen, Nicht Pressen" (Jet Black)

"Schäfchen Zählen" (Captain Planet)

"Scars" (Katzenstreik)

"Die Ekelhaften Pläne" (Adolar)

"Bedroom Or Dancefloor" (Iskra)

"Black Monday" (Mallorys Last Dance)

"Traurige Lippen / Traurige Stadt" (Mikrokosmos23)

"Coole Leute (Oder Was Ich Immer Schon Mal Sagen Wollte)" (Peters.)

**)Free Download (Spende erbeten) unter www.unterm.org/mp3

 

Schade, das war für 2012 bereits in Planung:

I Have No Mouth And I Must Scream

Mikrokosmos23

The Hirsch Effekt

mehr Adolar

 

Liebste Konzertorte:

Besetztes Haus Topf & Sohn, Erfurt (2001 - 2009)

Grünestraße 18, Bremen

Club Scheiße, Köln

JZO, Oerlinghausen

 

Bestes Cathering ever:

Besetztes Haus in Jena (3-Gänge-Menü mit Kerzenschein für Jet Black und

peters.), 2003

 

Größter Fehler auf Tour:

Im Topf & Sohn ohne Heizung im Winter pennen statt nach Ilmenau in die

WG zu fahren (2004).

 

Entscheidungen, die ich bereue:

Zu teure Tonträgerherstellung 2006

Festhalten an Bands/Künstler im Jahr 2009/2010

Flötenhardcore Allstars nie veröffentlicht zu haben

 

Das würde ich gerne nachholen:

Eine Woche mit Adolar auf Tour sein

Mit Peter Löwe frühstücken

 

Businesspartner, die zu Freunden wurden:

Jan Apel, Broken Silence Independent Distribution

 

*)Unglaubliche Hilfe im Hintergrund:

Antje (damit ich mich nicht mit Steuern und Finanzamt/Verwaltung kümmern

musste)

Six (Diskussion, Kritik und für´s Dasein!)

Sebastian und Felix (Diskussion und Kritik)

Stefan Sorg (verspult aber unersetzbar)

Beate Fischer (bewegte vieles im Bereich bewegter Bilder)

Uta Bretsch (wie´s praktisch funktioniert)

Thorsten Schrooten & Frank Riedel (juristische Expertise)

Vanessa Norhausen und Anne Herzog (so viele Übersetzungen!!)

 

Sorry an alle wichtigen Menschen, Freunde und sonstigen Wegbegleiter, die ich sicher nicht absichtlich unerwähnt gelassen habe!

 

 

Darauf freue ich mich wirklich:

Diplomarbeit zum Themenspektrum "Kommunikationsfreiheit vs. Kommunikationsbarrieren"

Zeit mit meiner Tochter

Musik hören ohne Hintergedanken (als "Macher")

Meine Erinnerungen weiter aufschreiben

 

 

Das höre ich definitiv zum Abschied:

The Final Countdown (Europe) http://www.youtube.com/watch?v=EG7wB3G-xp0

 

Links in eigener Sache:

Interviews mit unterm durchschnitt


http://www.youtube.com/playlist?list=PL5FAD402B56A8375B (Youtube Playlist)
unterm durchschnitt bei Facebook

www.grrr.org (Mailorder)

www.icantrelaxin.de
(I Can´t Relax In Deutschland-Initiative)

 

Definitiv passender Schlußsatz:

Das Niveau in der Unterhaltungsbranche ist leider gesunken. Bei der heutigen Konkurrenzsituation auf dem ... Markt kann man sich Luxus wie eine Handlung oder echte Gefühle gar nicht mehr leisten.

(Big Lebowski)




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Andreas Wildner
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